Christiane Felscherinow wird 1962 in Hamburg geboren, übersiedelt später mit ihrer Familie in den berühmt-berüchtigten Neuköllner Stadtteil Gropiusstadt in Westberlin. Plattenbauten und Armut prägen dieses Wohngebiet, in dem selbst stabile Familien mit sozialen Nöten zu kämpfen haben. Und Christianes Familie gehört nicht zu den stabilen Familien.
Christianes Kindheit ist geprägt von der Gewalttätigkeit des Vaters und den Geldsorgen der Familie. Mit zehn Jahren stiehlt sie zum ersten Mal. Nicht Geld für Drogen, sondern Geld für Essen. Mit zwölf Jahren bekämpft sie ihre Sorgen mit Haschisch und Alkohol. Aus Haschisch wird Heroin.
Mit vierzehn Jahren ist Christiane heroinabhängig. Um das Geld für ihre Abhängigkeit zu beschaffen, arbeitet sie am Kinderstrich an der Kurfürstenstraße und am Bahnhof Zoo. Ihr Leben wäre eines von vielen vergessenen und tragischen Drogenschicksalen, wären nicht zwei Stern-Reporter auf sie aufmerksam geworden.
Ende der siebziger Jahre sagt Christiane F. bei einem Gerichtstermin als Zeugin aus. Kai Hermann und Horst Rieck überreden Christiane zu einem Interview. Es folgt eine 12-teilige Reihe im Stern, darauf das Buch „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Der Erfolg der Artikel-Reihe und des Buches sind einzigartig. Ganze 91 Wochen steht die Biografie zwischen 1979 und 1981 auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Das Buch wird in 20 Sprachen übersetzt. Aber dabei bleibt es nicht: Christianes Leben wird verfilmt.
Uli Edel ist der Regisseur, Natja Brunckhorst spielt in der Hauptrolle und David Bowie hat einen Gastauftritt. Der Film wird ein voller Erfolg und Christiane F. bewirbt ihn sogar in Amerika.
Während Christianes Werbetour in den USA kommt es zu einem interessanten Ereignis. Sie hat eine Kassette mit Nenas 99 Luftballons mit auf Werbetour und spielt das Lied in einer Radiosendung. Das Lied wird daraufhin in den USA ein Hit.
Christiane schafft in jungen Jahren den Ausstieg aus der Drogenszene. Sie ist eine der wenigen Überlebenden ihrer früheren Freundesgruppe. Doch ein drogenfreies Leben bleibt ihr verwehrt. In ihrer Autobiografie „Christiane F. – Mein zweites Leben“ beschreibt sie die Jahre nach den Ereignissen ihrer Kindheit. Die Suche nach Glück und Geborgenheit ist die treibende Kraft in ihr. Doch dieser Traum bleibt ihr zeitlebens verwehrt.
Ruhelos zieht sie von Beruf zu Beruf. In den achtziger Jahren versucht sie sich zuerst als Schauspielerin, dann als Sängerin. Mit ihrem damaligen Lebensgefährten, Alexander Hacke, gründet sie das Gesangsduo Sentimentale Jugend. Doch weder als Sängerin noch als Schauspielerin fasst sie Fuß.
Sie wohnt jahrelang in Griechenland, dann wieder in Amsterdam, bevor sie nach Berlin zurückkommt. Erfolglos in ihrem Versuch, in der Berufswelt anzukommen; erfolglos auch in ihrem Versuch, clean zu bleiben. Christiane F. wird immer wieder rückfällig und nimmt noch heute Methadon.
Selbst die Geburt ihres Sohnes ändert daran nichts. 2008 verliert sie das Sorgerecht für ihr Kind, das ihr 2010 wieder gewährt wird. Aber aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme entschließt sie sich, ihren Sohn in der Obhut des Jugendamtes zu lassen.
Ihre jahrelange Drogensucht bezahlt sie mit einem schweren Preis: ihrer Gesundheit. Sie leidet heute an der Leberkrankheit Hepatitis C und an weiteren Folgeerscheinungen ihrer jahrelangen Heroinsucht. Sie beschreibt in ihrem Blog 2014, wie sie selbst im Winter kaum aus dem Bett kommt, ohne in Schweiß auszubrechen. Sie wird von Schmerzen geplagt, die ihr Leben auf ein kaum zumutbares Maß einschränken.
Christiane F. im Rampenlicht
Während der letzten vierzig Jahre gibt Christiane immer wieder sporadisch Interviews und ist Teil von Dokumentationen über ihr Leben. Doch 2014 verabschiedet sie sich endgültig von der Öffentlichkeit. Auslöser ist die Buchtour für ihre Biografie „Christiane F. – Mein zweites Leben“. Die emotionale und körperliche Belastung ist zu viel für Christiane.
Sie beschreibt auf ihrem Blog vor allem die emotionale Belastung für Menschen im Rampenlicht. Christiane nennt als Beispiel Markus Lanz. 2014 wird gegen Markus Lanz eine Online-Petition gestartet. Der Grund: Er unterbricht seine Gäste zu häufig. Über zweihunderttausend Menschen unterschrieben die Petition.
Christiane schreibt dazu auf ihrem Blog: „Mein Problem ist: Sobald man den Vorstellungen der Leute nicht entspricht, wird man angefeindet.“ Mit diesem Satz spricht sie vielen aus dem Herzen.
Während Christiane nun zurückgezogen lebt, wird ihr Leben noch einmal einem jüngeren Publikum vorgestellt. Denn selbst vierzig Jahre später ist ihre Geschichte noch immer relevant.
Amazon arbeitet an einer Neuverfilmung des Buches. Dieses Mal als Serie, nicht als Film. Der Sendetermin ist noch nicht bekannt. Die Serie weicht jedoch vom Originalfilm ab. Der Fokus liegt nicht länger auf Christiane, sondern auf der gesamten Freundesgruppe.
Ende der siebziger Jahre gab es in Deutschland viele Drogensüchtige und Prostituierte – nur sah niemand hin. Bis Christiane F. auftauchte. Das nette Mädchen von nebenan löste Empathie und nicht Ablehnung aus. Damit wurde die Drogenproblematik in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt – wo er bis heute geblieben ist.
Die Christiane-F-Stiftung unterstützt Kinder suchtkranker Eltern. Christiane selbst hat sich aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme aus der Stiftung zurückgezogen, aber die Stiftung lebt fort und leistet einen wichtigen Beitrag zur Drogenproblematik in Deutschland.
Christianes Leben zeigt die Komplexität einer Kindheit in sozialer und materieller Armut sowie die Langzeitfolgen einer Heroinsucht. Ihre Biografie ist zurecht noch immer Pflichtlektüre in unseren Schulen.
(Quelle: AJOURE.de Interview, vom 28.1.20)